Die Ratte suchte eines Tages die Sonne auf und hielt ihr folgende Rede: "Hör mal, du gewaltiger Stern! Ich bin das unglücklichste Wesen auf der Erde, ewig verfolgt von den Menschen, den Hunden und Katzen, Tag und Nacht auf der Hut, jeden Augenblick darauf gefasst, in eine Falle zu tappen. Ich vergehe ja vor Angst. Und was ist mein Verbrechen? Von Zeit zu Zeit an einer Maisähre oder einem Käse zu knabbern!"
"Das, mein Freund, ist unmoralisch", bemerkte die Sonne, welche die Ratte nicht leiden kann.
"Auch das noch!" schrie die Bittstellerin auf. "Weißt du nicht, dass die Herren der Welt es genauso machen? Und dazu ohne jedes Risiko. Nur, es ist mir eben aufgefallen, dass sie, um sich vor jeglicher Gefahr zu schützen, immer die Tochter eines Mächtigen der Erde heiraten und sich von ihren Schwiegereltern beschützen lassen. Nun gut, ich habe mich entschlossen, es ihnen gleich zu tun, und habe dich ausgesucht, die Mächtigste von allen:
Gib mir deine Tochter zur Gemahlin und beschütze mich. Ich habe die Nase voll von diesem Leben!"
Die in Panik geratene Sonne wiech sofort aus: "Du irrst dich! Ich bin nicht die Mächtigste im Universum!"
"Wer dann?", fragte die Ratte.
"Die Wolke. Du hast es doch gesehen. In der schönen Mittagsstunde, wenn ich mir wünsche, die Erde zu braten, bedeckt die Wolke mein Gesicht und ich bin erledigt. Geh zur Wolke mein Freund. Bitte sie um ihre Tochter, denn sie ist am mächtigsten."
Die Ratte stellte den Schwanz hoch, sauste zur Wolke und berichtete von ihrem Kummer: "Du bist am mächtigsten. Gib mir also deine Tochter."
"Ich? Ich am mächtigsten? Du willst dich über mich lustig machen!",
sprach darauf die Wolke.
"Ganz und gar nicht", erwiderte wiederum die Ratte, "Die Sonne hat es mir bewiesen und es stimmt, du verdunkelst sie, wenn du willst!"
"Ich verdunkele sie? Aber wie lange? Der geringste Wind und es ist nichts mehr von mir übrig. Ja, der Wind ist am mächtigsten, das kannst du mir glauben. Und überhaupt, sobald du ihm davon erzählst, wird er sehr zufrieden sein, denn er ist sehr eitel.
Aber ich warne dich, bei der Wahl deiner Worte. Er gerät leicht in Wutausbrüche, ist überhaupt sehr launisch und aus der sanfesten Brise wird schnell ein heftiger Sturm, also vergreif dich nicht im Ton und akzeptiere lieber, was er dir sagt, selbt wenn es "Nein!" heißt, denn wenn nicht, kann ich dein weiches Fell auch nicht mehr vor der brennenden Sonne bewahren!"
Und schon war die Ratte beim Wind, der sich gerade damit amüsierte, seine tochter in einer Hängematte zu wiegen.
Die Ratte nun unterrichtete den Wind von ihrem Kummer und setzte ihm das Ziel ihres Besuches auseinander:
"Halte mich nicht für einen Parvenu", schloss sie. "Ich will gerne weiter umherlaufen, um mein Brot zu verdienen, aber ich sehe, dass meine Existenz ohne den Schutz eines Mächtigen unmöglich wird. Der ganze Mais, der ganze Käse wird von den Starken vereinnahmt, die Schwachen dagegen müssen ihren Gürtel enger schnallen.", sprach die Ratte, dei immer noch die letzten Worte der Wolke im Kopf hat und nun versuchte an den guten Willen des Windes zu appelieren.
"Aber du bist doch überhaupt kein Schwacher!", rief der Wind aus, "ganz im Gegenteil, du bist viel stärker als ich."
Die Ratte riß nur, verwundert und geschmeichelt zugleich, ihre Augen weiter auf.
"Siehst du die Klippe im Meer dort? Bevor sie da war, wo du sie jetzt siehst, hing sie a jenem Berg, der wie ein Kap vorspringt. Vor einigen tausend Jahren begannen dort oben starke, aber dumme Herren mit dem Bau eines Schlosses, genauso dumm und stark wie seine Herren. Der schöne Berg aber wurde seines Wildes beraubt, das Meer durch diese Räuberhöhle verödet und die schöne Landschaft durch hohe Mauern entstellt. Du weißt, ich liebe es nicht, wenn die Freiheit gefesselt wird. Ich liebe es, zu laufen und alles mit mir laufen zu lassen. Ich habe mich daran begeben, mit aller Macht auf dieses Raubvogelnest zu blasen. Sie hatten sich gut festgekrallt!"
"Ach!", seufztete der Wind, "Tausende von Jahren vergeudete ich meine Kraft damit, dieses Gewürm auseinandertreiben zu wollen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurden sie immer mehr und immer arroganter! Nichts zu machen. Der Felsen rührte sich nicht, kaum, dass sich manchmal ein Mauerstück löste, war es auch schon wieder an Ort und Stelle. Gescheitert und völlig außer Atem, ruhte ich mich eines Morgens auf der anderen Seite der Meerenge aus, als mich plötzlich ein phantastischer Krach aus dem Schlaf weckte. Das Meer hob sich wie eine Mauer und hätte mich beinahe verschlungen! Der Felsen, der das Piratennest schützte, war von selbst herunter gefallen! Von selbst? Ganz und gar nicht! Ich sauste hin, schnüffelte herum und musste verärgert feststellen, dass das, was ich innerhalb von tausend Jahren nicht imstande war zu vollbringen, ihr, die Ratten, in einigen Generationen geschafft hattet. Du versteht, diese Herren hatten in ihren Kellern allen Überfluss dieser Erde gestapelt und wer von Überfluss und Herren spricht, der spricht von Ratten. Das ist ein und dieselbe Sippe. Und die Sippe der Ratten-Ratten hatte ihre Arbeit gut getan, um den Herren-Ratten ihren Überfluss streitig zu machen:
Der Felsen, von den einen ausgehöhlt, um ein Nest zu bauen, von den anderen unterhöhlt, um es wieder auszuheben, brach endlich zusammen!"
"Darum also sage ich dir eben, dass du stärker bist als ich! Gib also deine Idee auf, mein Freund und heirate ein Mädchen aus deiner Sippe. Und nimm zur Kenntnis, dass Gott die Macht unter seinen Lebewesen so gut verteilt hat, dass mit ein wenig Bescheidenheit jeder damit zufrieden sein kann, selbst wenn sich diese Überlegenheit nur in einer großen Gruppe zeigt und erst recht nicht in der Größe, sollte man sich vielleicht mal Gedanken machen, ob man diese Nachteile nicht zu seinen Vorteilen nutzt. Als kleines Tier auf der Flucht vor dem großen, in kleine Löcher schlüpft, um schlagartig zu verschwinden und sich als abhängiges Gruppentier wiederum freut, dass man mit anderen zusammen sein kann und soviel Spaß hat und sich gegenseitig hilft, denn es gibt auch genug Große und Mächtige, die soetwas machmal vermissen!"
Der Wind blinzelte der Ratte zu, indem er ein kleines Blatt, leicht über ihren Rücken fahren ließ. Die Ratte weinte und lachte innerlich auf, so begeistert war sie von der Antwort des Windes.
Nach außen hin schmunzelte sie jedoch nur, machte kehrt und ging fortan ihren Weg.
Original nachzulesen in Panait Istratis "Die Haiduken"